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ERC-Grants: Sechs neue Projekte ausgezeichnet

09.12.2020

Der Europäische Forschungsrat vergibt an sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der LMU hochdotierte Consolidator-Grants für ihre Forschung.

Nicole Bolleyer, Ralf Jungmann, Jan Lipfert, Martin Saxer, Philipp Stockhammer und Ronny Vollandt haben erfolgreich zusammen mit der LMU je einen Consolidator-Grant eingeworben. Für Nicole Bolleyer, Ralf Jungmann, Martin Saxer und Philipp Stockhammer ist es bereits der zweite ERC-Grant in ihrer Karriere. Die Auszeichnung ist mit einer Förderung von bis zu zwei Millionen Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren dotiert. Mit Consolidator Grants unterstützt der Europäische Forschungsrat (ERC) exzellente Wissenschaftler dabei, ihre innovative Forschung weiter auszubauen und zu konsolidieren. Grundlage für die Entscheidung des ERC bei der Vergabe der prestigeträchtigen Grants ist die wissenschaftliche Exzellenz der Antragsteller sowie des beantragten Projekts.

Mehr zu den neuen ERC-Projekten:

Die Politikwissenschaftlerin Nicole Bolleyer wird ab Januar 2021 als Inhaberin des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der LMU forschen und lehren. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich unter anderem mit Fragen der Zivilgesellschaft.

Das sogenannte NGO-Gesetz, das Victor Orbáns Fidesz-Partei 2017 im ungarischen Parlament durchsetzte, zwingt Nichtregierungsorganisationen, bei Gericht Spenden aus dem Ausland offenzulegen und sich in allen Publikationen als „Organisation, die Unterstützung aus dem Ausland erhält“ zu kennzeichnen. Für Nicole Bolleyer ist dieses Gesetz ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, wie in Europa Handlungsspielraum von zivilgesellschaftlichen Organisationen zunehmend beschnitten wird. Zudem steht es für einen breiteren, wenn auch nicht einheitlichen Trend. Nahezu alle EU-Mitgliedsstaaten haben gesetzliche Regelungen erlassen, die die Entfaltung von Zivilgesellschaft – willentlich oder unwillentlich – einschränken. Diese Bestimmungen stehen vor allem in Zusammenhang mit zentralen Herausforderungen, denen Demokratien in Europa über die letzten zwei Jahrzehnte mit unterschiedlicher Intensität ausgesetzt waren: der Terrorismusbekämpfung, der Bewältigung der Finanzkrise, der Regierungsübernahme populistischer Parteien und in jüngster Zeit der Corona-Krise.

In ihrem Projekt „The Shrinking Space for Civil Society in Europe” (CIVILSPACE) wird Nicole Bolleyer dieses Phänomen untersuchen, seine treibenden Kräfte analysieren sowie seine Rückwirkungen auf die Gesellschaft. Das Projekt soll erklären, aus welchen Gründen und auf welche Weise EU-Mitgliedsstaaten in den vergangenen zwei Jahrzehnten die rechtlichen Rahmenbedingungen verändert haben, unter denen zivilgesellschaftliche Organisationen wie etwa Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Religionsgemeinschaften oder Flüchtlings-Initiativen arbeiten. Es wird zudem untersuchen, wie sich diese Rahmenbedingungen auf die gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen auswirken. Das Projekt wird somit Themen ihrer unlängst abgeschlossenen Arbeiten fortführen, die unter anderem mit einem Starting Grant des ERC gefördert wurden.

Nicole Bolleyer studierte Politikwissenschaft und Germanistik an der Universität Mannheim und der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, und wurde 2007 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, Italien, promoviert. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mannheim, danach zunächst als Lecturer am Department of Politics der University of Exeter, Großbritannien, bevor sie dort zum Associate Professor und zuletzt 2015 zum Professor of Comparative Politics berufen wurde.

Ralf Jungmann ist Professor für experimentelle Biophysik an der LMU und leitet die Forschungsgruppe „Molekulare Bildgebung und Bionanotechnologie“ am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried. Er entwickelt neuartige bildgebende Verfahren in der superauflösenden Fluoreszenz-Mikroskopie mithilfe von DNA-Nanotechnologie.

Viele Wirkstoffe beeinflussen gezielt Proteine auf der Zelloberfläche. Vor Kurzem zugelassene Immuntherapeutika etwa binden bestimmte Oberflächenproteine, die die Interaktion von Immunzellen steuern und lösen so eine Immunreaktion gegen Tumore aus. Obwohl die Zelloberfläche daher einen wichtigen Wirkort darstellt, ist sie auf Nanoebene bisher schlecht charakterisiert. Einer der Hauptgründe hierfür sind technische Limitierungen bildgebender Verfahren. So erlauben die derzeitigen Techniken keine Hochdurchsatzmessungen, mit denen sich die räumliche Anordnung und Interaktion hunderter Proteine mit Einzelmolekülauflösung auf Zelloberflächen abbilden ließe. Mit dem ERC-Consolidator Grant „ReceptorPAINT – Imaging Receptomics as a tool for biomedical discovery“ will Jungmann mit seinem Forscherteam neue bildgebende Verfahren auf der Basis der DNA-PAINT-Mikroskopie entwickeln, um die Visualisierung und Quantifizierung aller relevanten Zelloberflächenproteine mit Einzelprotein-Auflösung zu ermöglichen.

Jungmann plant hierzu die räumliche Auflösung der Technik zu verbessern, fluoreszierende DNA-Sonden für alle Zelloberflächenproteine zu entwickeln, sowie alle Sonden gleichzeitig auszulesen. Die verbesserte Methode will der Physiker dann anwenden, um die Organisation hunderter wichtiger immunmodulatorischer Oberflächenproteine auf Immun- und Tumorzellen nanoskalig zu untersuchen. Dies könnte es möglich machen, die zentrale Hypothese zu testen: Diktiert die räumliche Anordnung von Oberflächenproteinen auf Immun- und Tumorzellen das Ergebnis ihrer Interaktionen? Die neuen Techniken könnten so grundlegende Einblicke in die molekulare Architektur von Immunzellinteraktionen liefern und die Entwicklung einer neuen Generation von „Muster“-basierten Immuntherapeutika ermöglichen.

Ralf Jungmann studierte Physik an der Universität des Saarlandes sowie der University of California in Santa Barbara und promovierte an der TU München. Anschließend war er als Postdoktorand an der Harvard University, USA, tätig. 2014 wechselte er als Leiter einer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe an die Fakultät für Physik der LMU und übernahm auch die Leitung der Forschungsgruppe Molekulare Bildgebung und Bionanotechnologie am MPI für Biochemie. Seit 2016 ist Ralf Jungmann Professor für Experimentalphysik an der LMU München.

Jan Lipfert ist Professor für Experimentalphysik an der LMU. In seiner Forschung interessiert er sich besonders für die Dynamik, Funktion und Interaktionen von biologischen Makromolekülen. Ein Schwerpunkt ist dabei, wie sich diese Moleküle unter dem Einfluss von äußeren Kräften verformen und ihre Struktur verändern, um biologische Funktionen zu erfüllen.

Mechanische Kräfte sind an der Regulierung vieler essenzieller biologischer Prozesse entscheidend beteiligt. Bestimmte zelluläre Signalkaskaden – beispielsweise bei der Autoregulation von Gefäßen oder der Blutgerinnung – werden durch äußere Kräfte in Gang gesetzt, indem Proteine diese Kräfte wahrnehmen und mit Konformationsänderungen reagieren. Ist die Mechanoregulation gestört, können Krankheiten wie Krebs und Infarkte entstehen. Die Mechanismen sind auf der Ebene einzelner Proteine immer noch schlecht verstanden, unter anderem weil die in physiologisch relevanten Bereichen wirkenden Kräfte sehr gering sind und bisher geeignete Methoden fehlen, um sie zu untersuchen. Hier setzt Jan Lipfert mit seinem ERC Projekt ProForce (“Mechano-Regulation of Proteins at Low Forces: Paving the Way for Therapeutic Interventions”) an: Der Physiker will die Entwicklung sogenannter massiv-paralleler magnetischer Pinzetten vorantreiben, die sehr kleine Kräfte (<0,1 Piko-Newton) auflösen können und ideale Werkzeuge für die Kraftmessung an einzelnen Proteinen darstellen. Diese Pinzetten will Lipfert einsetzen, um die Mechanoregulation im Detail zu untersuchen und Ansätze zu entwickeln, wie sich in anormales Verhalten unter Krafteinwirkung direkt eingreifen und wie sich die Kraftantwort als potenzielles Ziel für Medikamente etablieren lässt. Als Modell will er dafür drei Moleküle verwenden, die durch geringe mechanische Kräfte reguliert werden und unter anderem an der Blutgerinnung, der Zellproliferation und der Entstehung von Krebs beteiligt sind.

Jan Lipfert studierte Physik und Volkswirtschaftslehre an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Anschließend erwarb er einen Master of Philosophy an der Universität Uppsala (Schweden) und einen Master of Science an an der University of Illinois at Urbana-Champaign, USA. 2008 wurde Jan Lipfert an der Stanford University promoviert. Anschließend forschte er an der TU Delft (Niederlande), bevor er 2013 eine Professur für Experimentalphysik – Biophysik an der LMU übernahm.

Yartsagunbu ist ein seltener, ein äußerst begehrter Pilz, der sprichwörtlich in Gold aufgewogen wird. In den Gebieten Tibets und Nepals, in denen er wächst, ziehen im Frühjahr ganze Gemeinden in die Berge, um ihn zu sammeln. Sogar die Schulen schließen. Andere Sammler suchen im tauenden Permafrost in Sibirien nach Stoßzähnen einer längst ausgestorbenen Mammutart. In manchen Jahren kommen so Hunderte Tonnen Elfenbein zutage. Was auf den ersten Blick nach exotischen Phänomenen aussieht, so sagt der Ethnologe Martin Saxer, zeigt in Wirklichkeit Beispiele für eine ökonomische Praxis von globaler Bedeutung. Foraging, ein Begriff, für den es keine adäquate deutsche Entsprechung gibt, bezeichnet sozusagen das Sammeln und Aufklauben als ökonomische Strategie an den Rändern des Kapitalismus, eine Mischung von Überlebensmodus, Subsistenzwirtschaft und Mikrogewerbe, mitunter an der Grenze der Legalität. Beispiele dafür lassen sich rund um die Welt finden. Die „Amazon-Nomaden“, die durch die USA fahren und die Hinterlassenschaften bankrotter Geschäfte auf- und im Netz weiterverkaufen, gehören ebenso dazu wie das Recycling-„Business“ auf den Schrottkippen Afrikas, der Kleinbergbau in aufgelassenen Minen Amazoniens oder das Containern in deutschen Großstädten.

Mit seinem Projekt „Foraging at the Edge of Capitalism“ (FORAGING) will Martin Saxer die bislang bruchstückhafte Wahrnehmung des Phänomens systematisieren, das Verständnis um ein theoretisches Konzept erweitern und angesichts auch der Umweltimplikationen in Zeiten von Klimakrise und Artenschwund eine „politische Ökologie des Foraging im Anthropozän“ entwickeln. Das Projekt läuft am Rachel Carson Center der LMU.

Martin Saxer studierte Ethnologie an der Universität Zürich, Schweiz, und wurde an der Oxford University, Großbritannien, promoviert. Er war Postdoktorand in Oxford und am Asia Research Institute in Singapur. 2013 wechselte er mit einem Marie-Curie-Stipendium der EU an das Institut für Ethnologie der LMU. 2015 zeichnete ihn der ERC bereits mit einem Starting Grant aus. Bis April 2020 leitete er die Forschungsgruppe „Remoteness and Connectivity: Highland Asia in the World“ am Institut für Ethnologie der LMU.

Philipp Stockhammer, Professor für Prähistorische Archäologie mit Schwerpunkt Ostmittelmeerraum an der LMU, ist Experte für interkulturelle Verflechtungen zwischen dem prähistorischen Europa und Westasien zwischen 3000 und 500 vor Christus. Sein Forschungsschwerpunkt liegt dabei im östlichen Mittelmeerraum. Im Zentrum seines neuen ERC-Projekts „MySocialBeIng“ (Mycenaean Social Belonging from an Integrative Bioarchaeological Perspective) steht die Erforschung von Grabfunden der griechischen Bronzezeit, wobei in einem Grab regelhaft viele Individuen zusammen bestattet wurden. Die Wissenschaftler untersuchen dabei 500 Individuen aus verschiedenen Regionen des mykenischen Griechenlands archäologisch, archäogenetisch im Hinblick auf Verwandtschaft und mittels Isotopen im Hinblick auf Ernährung und Mobilität. Zugleich datieren sie die Funde mit Hilfe der C14-Methode. Durch die dieser Verfahren wollen die Archäologen ermitteln, welche Form des sozialen Zusammenhalts sich durch die gemeinsame Bestattung ausdrückt – es geht dabei um biologische Verwandtschaft und/oder soziale Faktoren wie Mobilität, Status, Geschlecht oder Alter. Die Forscher können so einen völlig neuen Blick auf die Sozialstruktur des mykenischen Griechenlands werfen.

Nach seinem Studium der Ur- und Frühgeschichte, Klassischen Archäologie und Alten Geschichte an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Brüssel und Tübingen wurde Philipp Stockhammer 2008 in Heidelberg promoviert. 2013 habilitierte er sich an der Universität Basel zum Thema „Materielle Verflechtungen – Zur lokalen Einbindung fremder Keramik in der ostmediterranen Spätbronzezeit”. Im Jahr 2016 wechselte mit seinem ERC-Starting Grant „FoodTransforms“ von der Universität Heidelberg nach München an das Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie und Provinzialrömische Archäologie der LMU. Stockhammer ist außerdem seit Dezember 2016 Co-Direktor des Max-Planck-Harvard Research Center for the Archaeoscience of the Ancient Mediterranean am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena.

Ronny Vollandt, Professor für Judaistik an der LMU, beschäftigt sich mit dem Judentum in der islamischen Welt vom frühen Mittelalter bis in die Moderne. Insbesondere untersucht er das literarische Erbe jüdischer Gemeinschaften im Nahen Osten in arabischer Sprache. Erwähnt man die jüdische Literatur, scheint es selbstverständlich, dass diese auf Hebräisch, Aramäisch oder Jiddisch verfasst wurde. Dass jedoch die jüdischen Gemeinschaften unter islamischer Herrschaft eine weit verzweigte und umfangreiche jüdische Literatur in arabischer Sprache hervorgebracht haben, ist wenig bekannt. Gerade aus heutiger Sicht scheint die Verwendung des Arabischen unvereinbar mit dem Judentum. Arabisch gilt als Sprache des Korans und der Muslime. Auch in der Judaistik wurde bis in die 1980er Jahre vergleichsweise wenig zum Thema geforscht. Vollandts ERC-Projekt MAJLIS (The Transformation of Jewish Literature in Arabic in the Islamicate World) wird sich erstmals systematisch dieser Literatur widmen. Ziel ist es, ein digitales Referenzwerk zu schaffen, in dem die jüdischen Autoren und ihre arabischen Werke erfasst und weltweit (und dabei barrierefrei) nutzbar gemacht werden. So sichert MAJLIS das in arabischer Sprache verfasste literarische jüdische Erbe und will gleichzeitig zeigen, wie die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses kulturellen Erbes auch der Traditionswahrung gefährdeter religiöser und anderer Minderheiten zugutekommen kann.

Ronny Vollandt studierte an der Hebrew University of Jerusalem in Israel und schloss dort 2007 mit einem Magister in Jewish Civilization ab. Im Jahr 2011 wurde er an der englischen University of Cambridge in Semitischer Philologie promoviert, war danach als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Research Unit Intellectual History of the Islamicate World an der Freien Universität Berlin tätig und forschte zu den ebenso komplexen wie reichen Übersetzungstraditionen der Bibel ins Arabische. Am 1. April 2015 wurde er zum Professor für Judaistik am Institut für den Nahen und Mittleren Osten an der LMU ernannt.

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