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Verstehen, wie Gesellschaft funktioniert

12.06.2020

Max Webers Werk zählt zu den einflussreichsten des 20. Jahrhunderts. Sein letztes Lebensjahr verbrachte der Mitbegründer der Soziologie an der LMU.

Max Weber (rechts) mit seinen Eltern Max und Helene sowie seinen Geschwistern (1888)

Max Weber (rechts) mit seinen Eltern Max und Helene sowie seinen Geschwistern (1888). | © akg-images

Das Center for Advanced Studies (CAS) in der Schwabinger Seestraße 13 nimmt in diesem Sommersemester in einer wissenschaftlichen Reihe die Aktualität des Werks von Max Weber in den Blick – vornehmlich als Videostream, dem Interaktionsformat eines pandemiegeplagten Spätkapitalismus, dessen Ausformungen und Folgen Weber wahrscheinlich sehr interessiert hätten.

Schräg gegenüber, Seestraße 16, wohnte der große Gesellschaftswissenschaftler die letzten Monate seines Lebens. Warum war er aber nach München gekommen und hatte den Ruf als Nachfolger von Lujo Brentano auf den Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie an der Universität München angenommen?

Tatsächlich war es nicht das „Professor-Spielen“ oder das Renommee der Universität, sondern ganz menschliche Sorgen und Gefühle: Erstens brauchte Weber nach langen Jahren akademischer Abstinenz wieder ein festes Einkommen, denn er war in den vorangegangenen Jahren von seiner Mutter und seiner Frau unterstützt worden.

Zweitens und wesentlich wichtiger war jedoch seine tiefe Zuneigung zu Elisabeth von Richthofen, der Ehefrau seines Freundes Edgar Jaffé und bereits seit Längerem auch Partnerin von Webers Bruder Alfred. Nicht zuletzt war Richthofens Umzug nach München ein Grund für Weber, ebenfalls hierherzukommen.
Obwohl er auch in München intensiv wissenschaftlich arbeitete, gelang es ihm nicht mehr, sein Opus Magnum Wirtschaft und Gesellschaft oder seine Schrift zur Religionssoziologie fertigzustellen, die ein Gesamtwerk abgerundet hätten, das immer noch Aktualität für sich beanspruchen kann.

Zum Beispiel wenn es um die Frage geht, warum sich die westliche oder okzidentale Hemisphäre bis heute als ökonomisch erfolgreicher erwiesen hat als andere Weltregionen, die in punkto Fortschritt und Reflexionsfähigkeit einmal deutlich weiter waren als Europa – so etwa der arabische Kulturraum oder Gesellschaften im Orient.
„Vor allem in der westlichen Welt hat sich die Trennung des ökonomischen vom politischen Denken, des wissenschaftlichen vom religiösen Denken durchgesetzt – eine Ausdifferenzierung, die diese Gesellschaften bis heute prägt“, sagt Professor Armin Nassehi, Soziologe an der LMU und profunder Kenner von Webers Werk. Warum war das so? Ein Grund war der Rationalismus, der im Zuge des aufstrebenden Kapitalismus als Organisationsform schließlich alle gesellschaftlichen Sphären durchsetzte und damit auch überkommene, unter anderem religiös konnotierte Weltdeutungsmodelle zunehmend in Frage stellte: Eine rationale, empirische Weltsicht duldet keine Betrachtungsweise, die nach einem Sinn des Lebens fragt.

Dabei ging Weber in seinem Hauptwerk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus davon aus, dass gerade in der religiösen, innerweltlichen Askese des Protestantismus eine Grundlage für den modernen Typus des ökonomisch und rational agierenden Subjekts liegen könnte. Jenes Typus, der seinen Beruf als Berufung, als göttliches Auserwähltsein begriff, seine wirtschaftlichen Bemühungen gottgefällig verstärkte und damit die Basis für die Akkumulation von Profit im modernen Kapitalismus legte.

Die Ökonomie verselbstständigte sich jedoch zunehmend und religiöse oder andere Motive spielten nicht länger eine Rolle – die einzelnen gesellschaftlichen Sphären differenzierten sich immer mehr aus.
Dieses Phänomen versuchte Weber mit der Methode der „Verstehenden Soziologie“ zu untersuchen und in seinem jeweiligen historischen Kontext zu beleuchten: Wie handelten und handeln die Menschen in ihren Sphären, was macht ihr Handeln aus? „Diese hermeneutische, stark empirische Herangehensweise zeichnet Webers Werk noch heute aus und sie ist nach wie vor unverzichtbarer Bestandteil der modernen Soziologie“, betont Armin Nassehi.


Wissenschaft muss werturteilsfrei sein

Porträt von Max Weber als Professor in Heidelberg (1918)

Max Weber als Professor in Heidelberg (1918). | © akg-images

Webers Arbeiten waren zwangsläufig stark von den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten geprägt, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bestimmten: ein beschleunigter Kapitalismus, das Erstarken des Bürgertums und natürlich auch politische Ereignisse und Katastrophen wie die Reichsgründung oder der Erste Weltkrieg. Aber auch seine Herkunft aus einem protestantischen, bürgerlich-konservativen Elternhaus spielte eine Rolle bei der Wahl seiner Themen. So war seine streng protestantische Mutter zeitlebens seine wichtigste Bezugsperson und sein Vater, ein nationalliberaler Reichstagsabgeordneter, für ihn das Role Model des Berufspolitikers. Allerdings sollte es Max Weber trotz politischer Ambitionen nicht wirklich vergönnt sein, selbst „seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen“, obwohl er sogar zu den Begründern der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gehörte.

„Man kann an Webers Biografie die Denkkonjunkturen seiner Zeit nachvollziehen, die natürlich sehr von Zäsuren bestimmt war und die Entwicklung von einer restaurativen Bürgerlichkeit hin zu einer liberalen Bürgerlichkeit nachvollziehbar macht“, sagt Armin Nassehi.
Tatsächlich war der junge Jurist Max Weber zunächst glühender Nationalist, der sich auch rassistischer Äußerungen bediente: In einem wissenschaftlichen Projekt über die ostelbischen Großagrarier und ihre Beschäftigten warnte er etwa vor einer „Überfremdung“ durch den Zuzug polnischer Landarbeiter.
Allerdings sollten sich derartige Urteile im Laufe seines Lebens deutlich ausdifferenzieren; Weber war durchaus in der Lage, einmal gefasste Ansichten zu überdenken und gegebenenfalls zu revidieren – schon als Resultat aus seiner hermeneutischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen und seinem Bewusstsein als politisch denkender Mensch.

Klar war für ihn dabei aber auch, dass wissenschaftliche Arbeit frei zu sein hatte von jedem Werturteil, ob politischer, religiöser oder sonstiger Natur: „Das Hineinmengen eines Seinsollens in wissenschaftliche Fragen ist eine Sache des Teufels“, betonte er. „Werturteilsfreiheit ist für die Wissenschaft maßgeblich“, bestätigt auch Armin Nassehi. „Aber Weber war natürlich nicht so naiv zu glauben, dass die Wissenschaft Fakten eins zu eins abbilden kann. Er hat lediglich gesagt, dass der Eigensinn des Wissenschaftlichen und der Eigensinn von Werturteilen zwei unterschiedliche Dinge sind: Das Sein und das Sollen. Dass die Gefahr besteht, dass man schon durch Auswahl der Themen immer auch Werturteile fällt, war Weber natürlich klar.“ Der größte Held für Weber, sagt Nassehi, sei daher der Wissenschaftler, der durch seine Arbeit zu dem Ergebnis kommt, das seinem Werturteil widerspricht. Wie es bei ihm selbst auch immer wieder der Fall gewesen sei.

Steile akademische Karriere

Max Weber im Gespräch auf Burg Lauenstein im Frankenwald (1917

Max Weber im Gespräch auf Burg Lauenstein im Frankenwald (1917). Im Hintergrund der Schriftsteller Ernst Toller, einer der Protagonisten der Münchener Räterepublik. Webers Fürsprache während der anschließenden Prozesse bewahrte Toller wohl vor der Todesstrafe. | © akg-images

Das Projekt zur ostelbischen Landwirtschaftsstruktur stand am Anfang einer steilen wissenschaftlichen Karriere. Bereits mit 30 wurde Max Weber auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Universität Freiburg berufen, zwei Jahre später wurde der studierte Jurist Professor an der Universität Heidelberg. Zunehmende, zum Teil massive, psychische Probleme führten jedoch zu seinem vorzeitigen Ausstieg aus dem akademischen Betrieb, offenbar litt er über Jahre hinweg an einer starken Depression. Erst nach dem Ersten Weltkrieg ging es ihm besser, er fasste wieder Mut und kam nach München – zu Zeiten von schwierigen politischen Umbrüchen.

Wenn es nach der Münchener Räteregierung gegangen wäre, hätte übrigens kein Vertreter des Bürgertums wie Weber den Brentano-Lehrstuhl bekommen.

Aber die Universität setzte sich durch. Vielleicht war es diese Ablehnung, die zur Folge hatte, dass Weber die Ermordung des ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner durch Graf Arco-Valley nicht kritisierte. Vielleicht war es auch Webers Einschätzung Eisners als Gesinnungspolitiker ohne Charisma, Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein; Attribute, die der Soziologe in seiner Typologie der Herrschaft dem charismatischen Führertypus eingeschrieben sah.

Im Wintersemester 1919/20, seinem zweiten Semester an der LMU, jedenfalls betonte er bei einer Vorlesung im Audimax, dass es ein Gebot der politischen Klugheit gewesen wäre, den Mörder Eisners zu richten, um eben nicht Eisner, sondern den Mörder zum Märtyrer zu machen, anstatt, so ein Zeitzeuge, zur „Kaffeehaussehenswürdigkeit“.

Noch einige Monate lehrte Weber in München und arbeitete weiter an seinen Schriften. Im Zuge der Grippe-Pandemie, die weltweit mehr Tote als der vorangegangene Weltkrieg gefordert hatte, erkrankte auch Weber. Der Mitbegründer der Soziologie starb am 14. Juni 1920 an einer Lungenentzündung als Folge der Infektion in seiner Schwabinger Mietwohnung während eines Gewitters.

Das Haus steht noch; ein Denkmal in München für einen der Urväter der Soziologie gibt es nicht – lediglich der schon zu seinen Lebzeiten bestehende Max-Weber-Platz wurde ihm nachträglich gewidmet, obwohl er ursprünglich nach einem Münchener Stadtrat gleichen Namens benannt worden war.

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